In „Underground Railroad“ vermischt Colson Whitehead atemberaubend Fakten und Fiktion der Sklavenflucht. Die namengebende Eisenbahn fuhr nie auf Schienen, aber ermöglichte 50.000 Menschen die Flucht.
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Als Cora die Stufen herabgestiegen war, sah sie einen kleinen Bahnsteig. Zu beiden Seiten öffneten sich die schwarzen Mündungen des riesigen Tunnels, er musste an die sieben Meter hoch sein. Hier fuhren Nahverkehrszüge, Expresszüge auf Strecken, die mal eingestellt, mal vorgetrieben wurden. „Schaut hinaus, während ihr hindurchrast, und ihr werdet das wahre Gesicht Amerikas sehen“, sagte der Stationsvorsteher zu Cora und ihrem Begleiter.
Dies ist die Szene, in der die dunkelhäutige Sklavin Cora die „Underground Railroad“ kennenlernt, zugleich der Titel des neuen Romans des amerikanischen Schriftstellers Colson Whitehead. Nachdem das Buch in den USA mit National Book Award und Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, startet es jetzt auch in Deutschland eine Bestseller-Karriere. Denn sein Thema ist die Sklaverei in Amerika, deren monströse Geschichte und brutale Gegenwärtigkeit der laufende Streit um konföderierte Denkmäler aufzeigt.
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„Untergrundbahn“ wurde das geheime Netzwerk genannt, mit dem die Gegner der Sklaverei bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs entflohene Sklaven aus dem Süden der USA in den Norden geleiteten. Zwischen 1810 und 1860 sollen rund 50.000 Farbige von weißen und schwarzen Helfern durch dieses ab den 1830ern „Underground Railroad“ genannte Geflecht aus Verstecken, Routen, Vorratslagern und Furten geschleust worden sein.
Das erforderte Mut und Improvisationsgeschick. Der Pfarrer John Rankin etwa signalisierte durch eine Laterne an seinem Haus am Ufer des Ohio, ob die Luft für eine Überquerung des Flusses rein war. Wiederholt suchten Häscher den bekannten Abolitionisten, wie die Gegner der Sklaverei genannt wurden, heim. Die Helfer stammten in der Regel aus religiösen Gemeinschaften, viele waren Quäker.
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„Ich führte sie durch Wälder meistens in der Nacht. Buben als Mädchen und Mädchen als Buben verkleidet: zu Fuß, auf dem Pferd, in Wagen, versteckt unter Heu, alten Möbeln, in Schachteln, Booten, Flößen und Baumstämmen“, schreibt der Methodist Calvin Fairbanks. 1851 verurteilte ihn eine Jury zu 15 Jahren Haft, was immerhin besser war, als von einem Mob gelyncht zu werden. Ein subtileres Mittel war der wirtschaftliche Ruin. Der weiße Quäker Thomas Garrett, der Flüchtlingen im Sklavenhalterstaat Delaware Zuflucht bot, musste 1848 eine Strafe von 4500 Dollar zahlen.
Auch geflüchtete Sklaven erwarteten schlimme Strafen, wenn sie gefasst wurden. Auspeitschen und Verstümmeln waren normale Strafen, es kamen aber auch Folter und auf maximale Abschreckung berechnete Hinrichtungen vor. Deren Besucher schlürften gewürzten Rum, während der wieder eingefangene Sklave mit Öl übergossen und geröstet wurde, malt der Autor Colson Whitehead ein derartiges Exempel drastisch aus: Der Gefolterte habe nicht geschrien, schreibt er, „weil man ihm schon am ersten Tag sein Geschlecht abgeschnitten, es ihm in den Mund gestopft und diesen zugenäht hatte“.
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Doch nicht allein der Repressionsapparat ihrer Besitzer garantierte, dass sich nicht besonders viele Sklaven in die „Untergrundbahn“ wagten. Familienbande hielten sie von der Flucht ab. Und da ihnen jegliche Schulbildung vorenthalten wurde, hatten sie auch gar keine Vorstellung von der Geografie der Nordstaaten, in denen die Sklaverei längst abgeschafft war. Das Werben der „Railroad“-Aktivisten stieß unter diesen Bedingungen oft genug ins Leere.
Von „Zugführern“, „Schaffnern“ und „Stationsvorstehern“
Das Bild von der Eisenbahn passt gleich im doppelten Sinne auf dieses Netzwerk der Helfer. Da war zum einen der Geheimcode, der aus ersten Ansprechpartnern „Zugführer“, Begleitern „Schaffner“, Gastgebern „Stationsvorsteher“ machte und fliehende Sklaven zu „Gepäckstücken“, die von „Depot“ zu „Depot“ oder „Bahnhof“ zu „Bahnhof“ weitergereicht wurden. Wichtig waren auch die „Anteilseigner“, die mit Geld, Beziehungen und öffentlichem Eintreten dafür sorgten, dass die Unterstützung für die „Züge“ in den Nordstaaten der USA wuchs.
Zum anderen stand die „Eisenbahn“ für das wirtschaftliche System, in dem die Sklaverei des amerikanischen Südens im 19. Jahrhundert einen ungeahnten Boom erlebte. Denn die atavistische Gesellschaftsordnung, die ein Drittel der Bevölkerung zu rechtlosem Eigentum ihrer weißen Herren machte, gründete auf der Industrialisierung. Deren globale Leitprodukte waren Eisenbahnbau – und Baumwolle.
Elf Jahre bevor die erste funktionsfähige Lokomotive 1804 ihre Jungfernfahrt unternahm, hatte der amerikanische Tüftler Eli Whitney das Patent auf eine Entkörnungsmaschine für Baumwolle angemeldet. Sie ermöglichte die schnelle Trennung der weichen Samenfäden von den harten Kapseln. Damit wurde der Anbau von Baumwolle zu einem lukrativen Geschäft, denn die Nachfrage nach Baumwollstoffen war hoch. Dem subtropischen Süden der USA öffnete sich eine glänzende wirtschaftliche Perspektive.
Dort hatte man beizeiten das Modell der Plantagenwirtschaft aus der Karibik und Brasilien übernommen und damit Luxusgüter wie Tabak und Zucker, etwas Indigo sowie als Spezialkultur Reis erzeugt. Dabei kamen Sklaven zum Einsatz. Doch im Gegensatz zu den mörderischen Lebensbedingungen auf den Zuckerplantagen der Tropen war der „Verbrauch“ menschlicher Arbeitskraft gering. Von den mehr als elf Millionen Afrikanern, die von Sklavenhändlern in die Neue Welt geschafft wurden, gelangten nur knapp 400.000 in die britischen Kolonien.
Als diese sich 1783 die Freiheit erkämpft hatten und darangingen, sich die freiheitlichste Verfassung der Welt zu geben, blieb das Humankapital ausgespart. Die Verfassungsväter glaubten, der wirtschaftliche Fortschritt werde die Sklaverei ohnehin bald überflüssig machen. Eli Whitneys Entkörnungsmaschine machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Denn sie ermöglichte den Aufstieg von „King Cotton“ zum lukrativsten Handelsgut der Welt. 1860 stammten zwei Drittel der Weltproduktion aus den US-Südstaaten.
Deren Elite dokumentierte ihren Erfolg mit einem feudal-aristokratischen Lebensstil, der sich bewusst vom Modernisierungstrieb des Nordens abhob. Im Süden gab es nur wenige Eisenbahnen auf unzusammenhängenden Trassen. Die „Underground Railroad“ spiegelte treffend diese Infrastruktur aus Improvisation und Rückständigkeit. Ständig wurden Routen und „Bahnhöfe“ gewechselt, die meisten Helfer kannten nur kleine Abschnitte der Untergrundbahn, zu einer fest gefügten Organisation sind sie nie zusammengewachsen. Wahrscheinlich war das das Geheimnis ihres Erfolges.
Ab 1808 entstand parallel zur „Underground Railroad“ ein in gegensätzlicher Richtung verlaufendes Wegenetz. Nachdem Großbritannien 1807 den Sklavenhandel abgeschafft hatte und die Royal Navy dieses Verbot im Atlantik durchsetzte, zog der US-Kongress nach. Von da an waren die Sklavenhalter in den US-Südstaaten auf den eigenen Nachwuchs oder den Binnenhandel mit Menschen angewiesen. Hunderttausende Sklaven aus dem oberen Süden wurden in die boomenden Baumwollregionen des tiefen Südens verfrachtet. Die Jäger ließen sogar freie Schwarze aus dem Norden in den Süden entführen.
Dass das noch kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs gängige Praxis war, beschreibt Harriet Ann Jacobs in ihren „Erlebnissen aus dem Leben eines Sklavenmädchens“, ein seltenes Zeugnis, weil sie zu den wenigen Sklaven gehörte, die Lesen und Schreiben gelernt hatten. Die beiden Kinder zurücklassend, die sie von einem Weißen hatte, gelang ihr die Flucht. Doch sie wurde von den Erben ihres früheren Besitzers aufgespürt. Nur weil eine Nordstaatlerin sie kaufte, entging sie der Rückführung.
Je mehr sich Norden und Süden über die Sklaverei auseinanderlebten, desto heftiger beharrten die Baumwollbarone der Südstaaten auf ihrem menschlichen Besitz. Er war ihr lebendes Kapital und machte die Südstaaten zu einer der reichsten Regionen der Welt. Zahlen lassen vermuten, dass sie sich deshalb auch mehr um das Wohl ihrer Sklaven sorgten, als Whiteheads Schilderungen ahnen lassen: Von 1785 bis 1860 wuchs die Sklavenbevölkerung der Südstaaten auf vier Millionen, für Historiker „der Sonderfall“ unter den sklavenhaltenden Gesellschaften der Neuzeit.
Die berühmteste Aktivistin des „Underground Railroad“ war Harriet Tubman. Auch ihr gelang nach schweren Misshandlungen die Flucht nach Pennsylvania. 1850 – der Kongress hatte auf Druck der Demokraten gerade ein Gesetz verabschiedet, das Behörden der Nordstaaten verpflichtete, Besitzer entflohener Sklaven bei ihrer Suche zu unterstützen – ging sie als „Zugführer“ und „Schaffner“ in den Süden. Auf ihren 13 Touren geleitete sie 70 Sklaven in die Freiheit. Oft ging sie im Winter, weil da die Nächte länger waren. Sie brach am Samstag auf, weil die Zeitungen mit den Suchanzeigen erst am Montag erschienen, und sie zwang, wenn es sein musste, ihre „Gepäckstücke“ mit einer Pistole zur Disziplin. Zahlreiche „Stationsvorsteher“ halfen ihr.
Zu Tubmans Helfern gehörte William Still. Der Sohn einer Sklavenfamilie, der die Flucht aus Maryland nach New Jersey gelungen war, gilt als „Vater der Underground Railroad“. Er half 800 Flüchtlingen, interviewte sie und dokumentierte ihr Schicksal. Den radikalen Abolitionisten John Brown nahmen diese Berichte so mit, dass er 1859 versuchte, ein Militärdepot zu überfallen, die Sklaven zu bewaffnen und zum Aufstand zu bewegen. Er wurde gefangen genommen und hingerichtet.
Der Offizier, der die Soldaten führte, war übrigens Robert E. Lee, der Südstaatengeneral, dessen Standbilder derzeit die Vereinigten Staaten spalten. Harriet Tubman soll als erste Frau überhaupt einen Geldschein, die 20-Dollar-Note, schmücken. So hat es noch Barack Obama designiert. Ob Donald Trump sich daran hält, wird sich zeigen.
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